Mach Dein Kreuz!
Als ich dieser Tage in unserem Stadtteil spazieren ging, sah ich am Boden einen Umschlag liegen. Es war eine Wahlbenachrichtigung. Unwissend, ob ich damit das Wahlgeheimnis oder das Briefgeheimnis verletzen würde, hob ich ihn auf. Er war an „Kevin Schaf“ adressiert. Ungeöffnet. Weggeworfen.
Ich verstehe ja vieles nicht. Dass jemand in einer Zeit, in der so vieles auf der Kippe steht, nicht wählen geht, gehört dazu. Also beim Schafskopf geklingelt. Hat eine Weile gedauert, bis er die Tür öffnete und dann auch nur ahnte, was ich von ihm wollte. Den Brief habe er doch weggeworfen, so eine doofe Mahnung. Ich hole weltmännisch aus, erkläre den feinen Unterschied zwischen einer privatwirtschaftlichen und einer politischen Mahnung. Kam nicht gut an – also inhaltlich. Mahnung bleibe Mahnung, lässt Kevin meine wohlziselierte Argumentation zu Staub zerfallen.
Ob ich denn mit ihm über die Bibel und sein Verhältnis zu Gott reden dürfe. Seine Gesichtszüge verfinstern sich sofort, an seinem Hals pocht eine Ader. Bevor ich mir en Detail ausmalen kann, wie es wohl ausgehen könnte, wenn er jetzt mit allem, was er hat, die Tür zuwirft, in deren Rahmen ich mich postiert habe, leite ich die Wendung ein.
Das sei gut, das wolle ich auch nicht, mit ihm über Gott reden und so. Sein optisch gut sichtbarer Puls verliert an Bedrohlichkeit. Es gebe in der Nachbarschaft doch diese Flüchtlingsunterkunft, ob er Kinder habe und ob er denn noch seine Uroma gekannt habe. Jaja, das wisse er, das mit den Asylanten. Nein, er habe keine Kinder, aber seine Schwestern – und ja, er erinnere sich, als kleiner Kevin seine Uroma gekannt zu haben.
Kevin und ich finden uns bald darauf an diesem milden Nachmittag an der Brauereigarnitur in seinem kleinen Hof wieder. Er erzählt von seinen Neffen und Nichten, ich von meiner Oma. Er schimpft auf die Flüchtlinge, die er manchmal an seinem Haus vorbeilaufen sieht. Nein, er selbst habe keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber er wisse schon Bescheid, wie das bei uns so läuft und bei denen sowieso. Vor Messern habe er keine Angst, mehr schon vor Merkel. Seine Uroma sei aus Schlesien vertrieben worden. „Auch sowas“, seufzt er.
Mitgefühl löst sich in Flüssigkeit auf und beim dritten Bier sind wir beim Krieg. Er erzählt, was seine Oma von seiner Uroma erzählt bekommen habe, ich erzähle von meinem Opa, dem Lokführer, meiner Zeit in Nigeria im regelmäßigen Angesicht von Mündungen automatischer Gewehre, meinen Wünschen für die Zukunft meiner Kinder.
Ob er selbst denn Krieg erlebt habe – so wie seine Uroma, mein Opa, die Flüchtlinge. Nein, natürlich nicht. Natürlich. Bier fünf katalysiert Zusammenhänge und ich entwerfe mein Bild von Europa, das der Garant dafür ist, dass wir, er, ich, seine Oma, meine Eltern, unsere Kinder in Frieden aufwachsen, Krieg nur aus dem Fernsehen und von Computerspielen kennen. Klar, klar. Kevin nickt im Takt der vorbeiratternden Straßenbahn.
Klar würde er, wenn er könnte, dieses Europa wählen. Könne er aber nicht. Kannst du wohl, Kevin!
Ich war mir noch nie sicher, ob Demokratie das Beste für uns Menschen ist. Ich erinnere mich an einen Tag, Helmut Kohl hatte mit Hilfe der umgeschwenkten FDP Helmut Schmidt aus dem Kanzleramt gejagt und stellte sich zur Wiederwahl, da fuhr ich mit dem Fahrrad in die Stadt. Ich kam, meine erste Bundestagswahl vor Augen und voll politischen Bewusstseins des gerade Volljährigen, an einer Straßenbaustelle vorbei. Dort arbeiteten Männer im Schweiße ihres Angesichts, am Bauwagen lag die Bild-Zeitung, daneben Bierflaschen und Reval ohne Filter, gab es damals noch.
In meiner jugendlichen Hybris beobachtete ich die Szenerie und dachte: „Du hast eine Stimme, ich habe eine Stimme“ und fand das sehr ungerecht, womöglich gefährlich. Ob das mit der Demokratie so eine gute Idee sei, fragte ich mich. Meine Klassenkameraden, mit denen ich darüber sprach, waren entsetzt, mein Sozialkundelehrer, der immer ein Fahrrad auf dem Autodach hin- und herfuhr, damit er im Falle einer Panne noch rechtzeitig in die Schule kommen könne, auch.
Tatsächlich plädierte ich – still und leise – für eine Oligarchie als überlegene Staatsform, eine Herrschaft der Wenigen, der Besten, derer, die einen Staat und seine komplizierten Geschicke am besten führen könnten. Denn das Risiko, dass allzu schlichte Gemüter in größerer Zahl über aufstrebende Intelligenzbestien wie mich hinweg bestimmen könnten, welchen Weg die Welt geht, schien mir unakzeptabel.
Dabei stieß ich jedoch auf eine Schwierigkeit, die ich bis heute nicht gelöst habe. Wie sollte ich diese Besten auswählen, die uns regieren sollten? Nach Kontostand, Intelligenzquotient, Lebensalter, Gesundheit, Charaktereigenschaften oder einem wohlgewichteten Index aus all dem? Nicht lösbar. Zumindest nicht ohne Reibungsverluste und Risiken, die denen der Demokratie in nichts nachstehen.
Demokratie ist die einzige Herdenform, in der die Schafe den Wolf wählen können.
Die Wölfe kommen zurück, verbreiten sich wieder in europäischen Wäldern, manch Schaf füttert sie gerne und krakeelt sich so auf die Schlachtbank von morgen. Es gibt kein Naturgesetz, das die Population der Wölfe wachsen lässt, wir selbst haben es in der Hand, das Kreuz bei den Wahlen zu setzen.
Profitipp eins: Lieber Kevin, wenn die Wahlbenachrichtigung weg ist, nimm Deinen Personalausweis und geh am 26. Mai ins Wahllokal. Das geht auch.
Profitipp zwei: Auf der Wahlbenachrichtigung ist ein QR-Code. Da mit der Smartphone-Kamera draufhalten, E-Mailadresse angeben, schon kommen die Briefwahlunterlagen ins Haus und du kannst dich bequem hinsetzen und wählen.
Profitipp drei: Der Wahlomat verrät dir nach einigen Fragen, welche Partei deinen Vorstellungen am nächsten kommt.
Profitipp vier: Es gibt eine schöne Kampagne aus Mainz, heißt „Make a cross“, ist einfach und schön, wer macht mit?
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