Der Traum der Steine.
Unser fürchterlicher Gott war die Sonne. Immer, wenn wir unsere Haut der Sonne zeigen wollten, kamen uns große aufgeregte Menschen zu Hilfe. Sie rieben weißes Öl auf unsere Haut, um uns vor der Sonne zu schützen. Damit unser Blick gesenkt blieb, hatte die Sonne uns kleine flache Steine gegeben, die wir in der Hand trugen. Diese Steine leuchteten in einem geheimnisvollen Rhythmus. Wir fürchteten die Sonne, sahen nicht zu ihr empor und hielten den Kopf gesenkt wie ein Hund, der die Gans gestohlen hat und vor seinen Herrn tritt.
Alle Menschen hatten so einen Stein, nur die ganz kleinen Menschen nicht. Doch als wäre es nicht in unserer Natur, den Kopf zu heben und in die Sonne zu blicken, wünschten sich selbst die Kleinsten einen solchen Stein, sobald sie sich etwas wünschen konnten. Wenn sie von ihren Eltern noch keinen bekommen hatten, bastelten sie sich selbst einen leuchtenden Stein aus Holz, Papier und Schilf. Sobald die großen Menschen erkannten, dass der Wunsch bei den Kleinen aufgegangen war, gaben sie ihnen, damit sie nicht selbst basteln mussten, Spielsteine, die aussahen wie die echten. Die Kleinen freuten sich darüber – und noch mehr, als sie endlich ihren eigenen Stein bekamen. Der war manchmal größer, manchmal kleiner als die Steine der großen Menschen.
Einmal dachte ich, der Stein würde aufhören zu leuchten, wenn wir ihn nicht mehr tragen. So, als würden erst wir ihm die Kraft zum Leuchten geben. Dann wäre die Sonne unser Gott, der uns den Stein gegeben hat und wir der Gott des Steins, der diesen leuchten macht. Doch das war nicht so und als ich das merkte, musste ich über meine eigene Dummheit lachen.
Doch viele dachten so. Viele Menschen hatten vergessen, dass die Sonne über alles herrschte und dachten, sie wären der Gott der Steine. Dabei war es genau anders herum. Und die, die das dachten, wurden immer mehr. Ich glaube, Menschen mögen es nicht, wenn andere ihnen sagen, was sie machen sollen. Sie erfinden dann Geschichten, warum das nicht so sei. Immer spielen sie dabei die Hauptrolle, wollen Held sein. Wie ein Segel, das sich für den Wind hält, der es bläht.
Wir Kleineren mussten den Stein immer in der Hand haben. Wenn das gerade nicht ging, weil wir aßen, schwammen oder miteinander rangen, mussten wir unseren Stein dabei haben, um nach ihm greifen zu können, sobald wir nicht mehr aßen, schwammen oder miteinander rangen. Wenn wir die Straße entlang liefen, hielten wir den Stein vor uns. Wenn unser kleiner Arm langsam müde wurde, wechselten wir die Hand oder trugen den Stein mit beiden Händen vor uns.
Wir durften nicht zu lange weg sein, denn sonst hörte der Stein auf zu leuchten. Dann wurden wir unruhig. Denn wir wussten dann nicht mehr, wo wir waren, wo die anderen waren, was sie gerade taten. Wir wussten gar nicht mehr, was wir wollten, bevor der Stein zu leuchten begonnen hatte und beeilten uns, nach Hause zu kommen, um den Stein wieder leuchten zu machen. Dafür mussten wir ihn anbinden wie einen tollen Hund, der nichts Besseres weiß, als seinem Herrn davonzulaufen. Weil der Stein nicht aufhörte, zu leuchten, sobald er angebunden war, blieben wir in seiner Nähe. Wer weiß, was sonst passiert wäre.
Auch die Älteren wurden unruhig, wenn sie den Stein zu wenig ansahen. Doch wenn sie ihn zu lange ansahen, wurden sie auch wieder unruhig. Eine schwierige Situation für die Älteren. Sobald sie diese schwierige Situation erkannten, wurden sie noch unruhiger. Auch sie hatten ihren Stein immer bei sich. Wenn sie ihn nicht in der Hand trugen, steckten sie ihn in den dicken Stoff, mit dem sie sich vor der Sonne schützten. Manche hatten sogar ein kleines Stück Stoff, um den Stein zu schützen, bevor sie ihn in ihren großen Stoff steckten. Denn wenn der Stein zerbrach, wurden sie sehr unruhig. Wenn sie ihren Stein in ihrem Stoff trugen, mussten sie sicher wissen, dass er auch dort war. Sonst wurden sie unruhig. Deswegen griffen sie alle zehn Schritte an die Stelle, wo sie den Stein verwahrt hatten. Bei manchen sah das aus, als würden sie sich selbst schlagen, besonders, wenn sie während der zehn Schritte vergessen hatten, an welche Stelle des Stoffes sie ihren Stein gesteckt hatten und sich mal selbst aufs Bein, mal auf die Brust und mal auf den Po schlugen.
Obwohl viele Menschen in meinem Traum viel älter waren als die Steine, wussten sie gar nicht mehr, wie sie ohne Steine gelebt hatten. Obwohl sie ihre Steine immer dabei hatten, war ihnen das nicht Recht. Dann schimpften sie über ihre Steine. Und weil sie gerade dabei waren, schimpften sie sich gegenseitig, warum sie ihre Steine immer in der Hand hätten. Wenn sie ihren Stein in der Hand hielten, wünschten sie sich nichts sehnlicher, als ihn nicht in der Hand zu halten und wurden unruhig. Wenn sie ihren Stein nicht in der Hand oder nicht greifbar oder sogar zuhause an der Leine vergessen hatten, wurden sie unruhig.
Die Sonne, unser höchster Gott, spielte den Menschen übel mit.
Ich bin Guido Augustin, Autor, dies ist Guidos Wochenpost.
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