Vitales Restrisiko.
In unserem Haus akzeptieren wir ein erhöhtes Einbruchrisiko. Denn wir haben Löcher in den Wänden, die nur mit Glas gefüllt sind. Dadurch ist es viel einfacher, bei uns einzubrechen. Ich weiß das. Dennoch haben wir diese Löcher nicht zugemauert. Das würde uns mehr Sicherheit geben, keine Frage. Doch wir haben uns dagegen entschieden, weil Licht, frische Lift und die schöne Aussicht mögen. Des Rest des Risikos tragen wir gerne.
Ich war lange still mit Guidos Wochenpost, doch jetzt habe ich etwas Wichtiges zu sagen. Es ist diese Sache mit dem Restrisiko, die in unserer Zeit keinen Platz mehr zu haben scheint. Ein Virus hält die Welt in Atem – und wir reagieren auf die Risiken, die er mit sich bringt undifferenziert und aktionistisch.
Es hat den Anschein, als würden wir von Menschen regiert (wo ist der Bundestag?), verwaltet (wo ist die Dezemberhilfe?) und gegängelt (wieso Maskenpflicht im Freien?), die lieber im Dunkeln sitzen und sich einmauern, weil ein Einbrecher kommen könnte – auch wenn sie nie einen gesehen haben und sie dafür depressiv werden und ihnen kleine Schnecken auf der Nase wachsen. Sie wollen allen gefallen, haben nicht den Mut zu einem klaren „ja“, das so viel „nein“ in sich trüge.
Die Pandemie, deren Existenz ich schon früh begriffen und nie bestritten habe, ist schlimm und die Kraft der Exponentialkurve habe ich an anderer Stelle („Mit 63 Dominosteinen zum Mond“) beschrieben. Aber, aber und nochmals aber: Hygienevorschriften können nicht das einzige Kriterium unseres Lebens, unserer Zivilisation, unserer Haltung sein.
Wir müssen uns dringend wieder daran erinnern, mit dem Restrisiko zu leben. Denn es ist alternativlos. Wie wir unsere Kinder nicht in Watte packen können, können wir niemanden absolut zuverlässig vor jedem Virus schützen. Wir müssen die tatsächlichen Risiken immer besser verstehen und sie eingrenzen – und mit dem, was dann übrig bleibt, leben lernen.
Ja, es ist schlimm, krank zu werden, es ist schlimm, ins Krankenhaus zu kommen, es ist schlimm, zu sterben – aber wer behauptet, es ließe sich vermeiden, lügt.
Niemand, der uns einen monatelangen Lockdown zumutet, der offensichtlich seinen Zweck verfehlt, hat zuhause seine Fenster zugemauert.
Doch beim Blick auf Corona funktioniert nicht, was wir im „richtigen Leben“ mit der Muttermilch aufgesogen haben: Restrisiko zu tragen eben. Wir fahren mit dem Auto und fürchten dennoch nicht den Frontalzusammenstoß. Wir spielen Fußball, schwimmen im Baggersee und wedeln auf der Skipiste, ohne an Bänderrisse, Scherben oder Knochenbrüche zu denken. Wir mogeln in der Steuererklärung bei der Entfernung zum Arbeitsplatz und fürchten keine Strafe, wir schlagen den Nagel mit der Zange auf dem Stuhl balancierend in die Wand, ohne an den Orthopäden zu denken, wir rufen bei Länderspielen halblaut „Deutschland“ in unser Pils. Wir genießen Billig-Fleisch, Dosen-Ravioli und Gummibärchen. Wir bekommen heiße Ohren vom Telefonieren ohne Headset und geben dem Sofamagnetismus nach, anstatt durch den Wald zu joggen.
Ganz anders unser Verhalten zum 1. Pandemie-Geburtstag: Wir schließen Schulen, weil sich jemand anstecken könnte. Wir verbieten den Besuch bei unseren Alten. Wir treiben uns systematisch in den Wahnsinn des Lockdown-Blues – ohne plausible Aussicht auf Besserung.
Es ist, als würde jeder Autobahnabschnitt, auf dem es einen Unfall gegeben hat, für ein halbes Jahr gesperrt, um die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen.
Was wir brauchen, sind keine zugemauerten Fenster, keine gesperrten Straßenabschnitte, keine wattierten Kinder.
Was wir brauchen, ist eine ausgewogene, differenzierte und flexible Umgangsweise mit diesen Virus – und allen, die nach ihm kommen werden.