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Es tat einen Schlag, die Gäste des Münchner Cafés schauten erschreckt auf. Draußen, auf dem Fahrradweg, war ein Radler an einem geparkten Rad hängen geblieben und lag jetzt wimmernd auf dem Asphalt. Von den rund 50 Gästen in unmittelbarer Nähe sprangen zwei sofort auf, um dem Mann zu helfen. Sie beruhigten ihn, stillten seine Blutung und schützten ihn mit einer wärmenden Decke, bis der Krankenwagen da war. 48 Gäste waren sitzen geblieben.
Die Psychologie nennt das den Bystander- oder Zuschauereffekt: Je mehr Menschen helfen könnten, desto weniger helfen tatsächlich. Das ist zwar dramatisch, wenn man selbst so ein Unglücksradler ist. Daraus lassen sich jedoch wertvolle Schlüsse für unsere Kommunikation und damit den Erfolg unserer Kommunikation ziehen.
Tatsächlich kommt der Effekt uns vertraut vor („Warum hilft mir denn niemand?“), andererseits fällt es mir schwer, ihn zu akzeptieren. Die Ergebnisse von Studien zu diesem Thema sind bedrückend. Wie jener Klassiker von John Harley und Bibb Latané, die in den 60ern einen komplizierten Versuchsaufbau schufen, um das zu messen.
Sie luden Probanden zu einem Experiment, wo jeder in einer Kabine saß, also nicht sehen konnte, was andere taten. Die Probanden waren aufgefordert, von sich, ihrem Leben, ihren Sorgen zu erzählen. Die Teilnehmer konnten sich also hören, jedoch nicht sehen. Die Forscher führten die Teilnehmer in die Irre, indem sie eine Aufzeichnung einspielten. Ein junger Mann berichtete darin, dass er unter Stress zu epileptischen Anfällen neige. Wenig später täuschte diese Stimme einen Anfall vor, bat um Hilfe.
Wenn die Forscher einer Versuchspersonen gesagt hatten, es handele sich um ein Zwiegespräch, versuchten 85 Prozent, dem anderen zu helfen. Im Mittel dauerte es 52 Sekunden, bis sie aufstanden. Glaubten die Probanden, es gebe neben dem Opfer und ihnen noch eine weitere Person in den Kabinen, reagierten 62 Prozent – nach 93 Sekunden. Bei vermuteten sechs Gesprächsteilnehmern kamen gerade noch 31 Prozent zu Hilfe – und ließen sich dafür über zwei Minuten Zeit.
Dies ist ja auch der Grund, warum Opfern von Verbrechen geraten wird, einzelne Personen in der Nähe konkret anzusprechen: „Du, alter Mann mit dem roten Mantel und dem weißen Bart, kannst du mir bitte helfen?“ Womöglich würde der Weihnachtsmann nichts tun, wenn die Verfechter der Reaktanz-Theorie Recht haben, er könnte sich nämlich in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt fühlen.
Dennoch: Die Chance ist größer, je unteilbarer die Verantwortung, je konkreter die Ansprache. Wir sollten uns davor hüten, Menschen, von denen wir etwas wollen, in die Anonymität abtauchen zu lassen. Das gilt ganz allgemein für unsere Kommunikation: Je genauer wir wissen, mit wem wir reden möchten, desto genauer können wir ihn auch adressieren, desto eher wird er sich angesprochen fühlen.
Das Prinzip funktioniert im Großen wir im Kleinen.
Wenn ich mich wiedererkenne, reagiere ich viel eher, auch wenn jemand meinen Namen nicht nennt: Apple erreicht mich (“Think different“), Coke Zero erreicht mich („Die erste Cola für den Mann“), Mainz 05 erreicht mich („Wir sind nur ein Karnevalsverein“), Manufactum erreicht mich („es gibt sie noch, die guten Dinge“ und so weiter.
Wer direkt angesprochen wird, reagiert – zumindest mit höherer Wahrscheinlichkeit. Wenn ich Fotos von einem Kunden haben will, um diese als Referenz einsetzen zu können, sollte ich nicht an die beiden Geschäftsführer schreiben. Viel schlauer dagegen: An die Assistentin als direkte Empfängerin schreiben, die muss nämlich im Zweifelsfall auch die Arbeit machen, also die Bilder suchen, packen, verschicken. Die Geschäftsführer dagegen setze ich auf CC. Dann wissen sie Bescheid, können schnell und einfach genehmigen (sie haben ja wenig Zeit!) und wissen, dass sie nichts arbeiten müssen. Ganz im Gegensatz zu der Assistentin, in deren Schoß diese Aufgabe damit völlig unmissverständlich gefallen ist.
Der gestürzte Radler aus München hatte Glück im Unglück. Die kleine Platzwunde dürfte bald verheilt gewesen sein. Länger geschmerzt hat da wohl eher sein Liebeskummer. Seine Freundin hatte ihn am Tag zuvor verlassen. Deswegen war er schon am Vormittag angetrunken, deswegen war er unkonzentriert gewesen, deswegen war er so blöd gestürzt. All das hat er mir in den wenigen Minuten erzählt, die ich mit ihm auf den Krankenwagen gewartet habe.
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