Ikarus reloaded.
Als Ishak Belfodil am letzten Spieltag das 1:0 gegen Mainz gelang, feierte er – und die Fans der Hoffenheimer mit ihm. Dabei hätte er doch ahnen können, dass diese Partie verloren gehen sollte und seine Mannschaft dadurch kommende Saison nicht europäisch spielen darf. 4:2 hieß es am Ende. Ernsthaft käme niemand auf die Idee, von einem erfolgreichen Sportler Zurückhaltung zu fordern, weil sein Teilerfolg am Ende nicht zum großen Erfolg reichen könnte. Abseits des Sportplatzes ist dies jedoch genau so: Wir feiern unsere Erfolge nicht, weil wir fürchten, sie könnten nicht von Dauer sein.
Menschen neigen dazu, wenn sie etwas Schönes sehen oder erleben, sich sofort ein negatives Gegenstück vorzustellen. Ich habe dies dereinst als Ikarus-Prinzip beschrieben. Denn die Mythen der Antike entspringen ja nicht der Geschichtsschreibung, sondern sind moralische Gleichnisse, Handlungsanweisungen für den einfachen Menschen. In diesem Fall der deutlich-drohende Hinweis, nicht zu hoch zu fliegen wie Ikarus. Denn der freiheitsliebende, mutige Jüngling wurde für seinen Hochmut mit dem Tode bestraft. Der Mensch, so die Ermahnung, solle den Göttern nicht nacheifern. Mit diesem Prinzip haben die Oberen über Jahrtausende Menschen klein gehalten. Wie die Kirche, die dank lateinischer Grenzen Wissen nicht teilen wollte, wie Adel, der Bauern keine Bildung gönnte, wie Industriemagnate, die der Arbeiterklasse alle Aufstiegschancen verwehrten.
Wir haben gelernt, unseren Platz in der Geschichte zu kennen und schmerzlich erfahren, was passiert, wenn wir aufbegehren. Doch auch in unserer Zeit, nachdem viele dieser Grenzen gefallen sind, bestehen sie in den Köpfen fort: Flieg nicht zu hoch, mein kleiner Freund, Hochmut kommt vor dem Fall, den Vogel, der zu laut singt, holt die Katz, du wirst schon sehen, was du davon hast, Schuster, blieb bei deinen Leisten.
Bei der wunderbaren Brené Brown bin ich auf eine Erklärung gestoßen, warum Menschen bei einem kleinen Erfolg das ihm folgende große Unglück fürchten.
Menschen wollen nicht verwundbar sein. Sie fürchten sich, getroffen zu werden, wenn die Rüstung gefallen ist. Und genau das ist es, was sich im Gefühl der Freude, der Dankbarkeit, der Anerkennung einstellt. Diese Gefühle sind so stark – und sogleich schaffen sie maximale Verwundbarkeit. Die Freude über ein Tor ist grenzenlos – und umso größer ist die Wut, die Traurigkeit, der Schmerz, wenn das Tor dann vom Schiedsrichter zurück genommen wird, berechtigt oder unberechtigt.
Um diese Verwundbarkeit in der Freude nicht aushalten zu müssen, stellen wir uns lieber sofort etwas Negatives vor. So schützen wir uns mit dem Harnisch des Pessimismus vor der Verletzlichkeit des Glücks. Praktisch alle Eltern kennen das: Sie betrachten ihr Kind, das sie über alles lieben – und im gleichen Moment ergreift sie ein schrecklicher Gedanke, was ihrem Kind fürchterliches zustoßen könnte.
Doch diese Verwundbarkeit müssen wir zulassen. Wir müssen unsere Erfolge feiern – ohne Einschränkung. So wie im Stadion jedes Tor gefeiert wird, egal, wie das Spiel ausgeht. Ja, es kann sein, dass der Auftrag wieder abgezogen wird, ja es kann sein, dass das Projekt nicht erfolgreich ist, Ja, es kann sein, dass einem Führungstreffer viele Gegentreffer folgen und das Spiel verloren geht.
Aber sicher können wir uns dessen nicht sein. Und wenn ein Auftrag verloren geht, wenn ein Projekt floppt, wenn ein Spiel trotz eigener Führung verloren geht, dann sicher nicht, weil wir uns darüber gefreut haben, weil wir den Erfolg gefeiert haben, weil wir in dieser Freude verwundbar waren.
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