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Frag doch die Vogelscheuche.

Auf hessischen Autobahnen hängt ein drastisches Plakat. Ein zersplittertes Handys, ein Foto eines Vaters mit seiner Tochter: „Michael (38), abgelenkt von einer SMS“. Womöglich hat mich diese Botschaft bei 140 Stundenkilometern ja vom Verkehr abgelenkt, doch die Botschaft ist klar. Du kannst dich nicht auf zwei wichtige Aufgaben gleichzeitig konzentrieren. Die Herren Vettel, Hamilton und Bottas lassen ihr Handy ja auch in der Formel 1-Box.

Frauen, behaupten Gender-Witzbolde, könnten das besser, weil sie es immer schon gewohnt gewesen seien, auf Höhle, Feuer, Kind, Mann, die eigene Karriere und wer weiß was noch zu achten – und das alles gleichzeitig. Multitasking heißt das, gleichzeitig mehrere Aufgaben abarbeiten, die nicht oberflächlicher Natur sind, also eine gewisse Konzentration erfordern. Dabei habe ich, um mal sanft lächelnd in die Gender-Kerbe zu hauen, festgestellt, dass viele Frauen beim Spaziergang stehen bleiben, wenn das Gesprächsthema hochinteressant wird, sich also sprichwörtlich ein bunt dekoriertes Schaufenster eröffnet.

Die Wahrheit ist: Niemand kann Multitasking – wenn wir das als parallel verarbeitete Aufgaben definieren, die eine gewisse Aufmerksamkeit, beispielsweise eine Entscheidung, verlangen. Nicht auf der Autobahn, nicht als Frau, gar nicht. Neurologen haben es belegt: Wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig tun, dann nur durch schnelles Umschalten zwischen diesen Aufgaben. Je schneller und größer die Wechsel, desto riskanter. Wenn also die SMS während einer ereignisarmen Autobahnpassage mit Tempomat reinkommt, kein Problem. Besser gesagt: Glück gehabt. Wenn aber meine Aufmerksamkeit gerade auf dem Display klebt, um eine Nachricht zu lesen und vor mir ein Laster ausschert, kann es schon mal eng werden.

Denn das so genannte Multitasking erhöht das Stresslevel, verringert die Reaktionsfähigkeit und senkt den IQ um rund 10 Punkte – für manche Zeitgenossen ein kritischer Wert.

Dennoch hält sich die Mär vom Multitasking so hartnäckig wie der hohe Eisengehalt von Spinat, die gleichförmige Zeit trotz der Einstein’sche Erkenntnisse und die Überlegenheit der deutschen Finanzverwaltung. Dabei wissen wir, wenn wir es denn wissen wollen, dass der permanente Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben im Ergebnis dazu führt, dass alle Aufgaben schlechter ausfallen als einzeln abgearbeitete.

Es wäre also eine gute Idee, erst einen Artikel zu schreiben und dann erst seine Social-Kanäle zu checken, um die Gedanken des Textes optimal entwickeln und formulieren zu können. Doch obwohl dies neurologisch und empirisch belegt ist, fällt es uns so unendlich schwer. Und das ist das Gemeine daran.

Denn Multitasking entstand nicht, weil wir so viele Aufgaben zur gleichen Zeit haben und nicht wissen, wie wir ihrer Herr werden. Multitasking entstand, weil wir süchtig sind. Süchtig nach kleinen Belohnungen, die unser Hirn so gerne hat. Wenn die Konzentration für den Text nachlässt, springe ich zu Facebook und freue mich an neuen „likes“ meiner „Freunde“, begrüße neue Follower auf Instagram und wundere mich, dass meine Freundschaftsanfragen immer noch nicht beantwortet sind. Am besten, ich sehe in vier bis fünf Minuten nochmal nach. Zurück zum Text.

Mit anderen Worten: Wir lassen uns für unsere Multitasking-Fähigkeiten und die angeblich damit einhergehende Produktivität bewundern, doch tatsächlich verkaufen wir anderen und uns selbst damit unsere Entzugserscheinungen.

Dabei macht es keinen Unterschied, ob wir selbst die Ablenkungskarte ziehen oder die Störung von außen kommt. Eine Studie mit dem sprechenden Titel „The cost of interrupted work“ hat errechnet, dass es uns über 20 Minuten Zeit kostet, nach einer Unterbrechung wieder in die ursprüngliche Konzentration zurück zu finden. Was das bei unseren permanent pingenden Aufmerksamkeits-Monster-Maschinen in der Hosen-, Jacken- oder Handtasche bedeutet, kann sich jeder leicht vorstellen.

Das erinnert mich an die Zeit unseres Pressebüros in der New Economy: Wir hatten an besten Tagen 20 Mitarbeiter im Haus, die hatten viele Fragen. Mehrmals täglich stand einer dieser Mitarbeiter unangemeldet vor meinem Schreibtisch – ich voll fokussiert, am schreiben. Gewesen. „Du, Guido …“, dann schwurbelte er irgendwas ohne Struktur und Sinn. Doch während ich mit irrem Schafblick auf meinen Gehaltsempfänger starrte und (meist vergeblich) wartete, ob sich seine Worte zu einer Frage formen würden, die ich gerne beantworten würde, begann er, über das ganze Gesicht zu strahlen. Er hatte, als er sich so zuhörte, die Lösung der unentdeckten Frage ganz alleine gefunden.

Er bedankte sich höflich, ging zufrieden wieder an seinen Platz und ließ mich konsterniert zurück.

Ich war auch höflich, sonst hätte ich wahrgemacht, was ich angedroht hatte: „Ich stelle eine Kleiderpuppe auf, die bekommt meinen Mantel und meinen Hut. Wenn ihr eine Frage an mich habt, fragt bitte erst die Puppe. Erst wenn diese die Antwort nicht kennt, kommt zu mir“.

Denn er hatte zwar seine Antwort, aber ich hatte meine Konzentration komplett verloren und kann aus meiner quasisstatistischen Wahrnehmung heraus die in der zitierten Studie ermittelten mehr als 20 Minuten voll und ganz bestätigen. Übrigens sagt ebendiese Studie, dass wir rechnerisch knapp über 10 Minuten brauchen, um bei neuen Aufgaben in den Fokus zu finden.

Vergessen wir also das mit dem Multitasking und arbeiten wir an unserer Sucht, um der Versuchung, mal eben schnell links und rechts nach Belohnungen zu heischen, zu widerstehen. Es lohnt sich mehrfach. Ich schreibe das auch ganz bewusst für die Jüngeren meiner Leser aus Generationen, die mit digitalen Gadgets und all ihrem Fluch und Segen geboren wurden.

Womöglich wissen diese jungen Menschen gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, wenn der Tunnel langsam zugeht und alle Aufmerksamkeit auf der einen Sache liegt. Wenn wir keinen Hunger und keinen Durst spüren, schier endlos weitermachen könnten und maximal produktiv sind.

Autoren kennen das, Künstler kennen das, Buchhalter kennen das, Gründer kennen das, die Liste ließe sich verlängern … auch Ausdauersportler kennen das. „Runners High“ heißt das bei Läufern, wenn unangekündigt Dopamin einschießt – ganz heißer Stoff. Ich hatte mein erstes Erlebnis dieser Art auf dem Rennrad – und es hätte mich beinahe vom Sattel geworfen. Ich weiß noch genau, an welcher Wegstelle das war, unvergesslich. Davor lagen rund 120 Minuten fester Tritt, keuchender Atem, schmerzender Rücken – alles vergessen in diesem Moment.

Auch wenn unser Suchtverhalten suggeriert, es sei langweilig: Erst wenn wir fokussieren, in den Tunnel gehen, uns auf Monotasking einlassen und verlassen, erst dann wachsen wir über uns hinaus und schaffen göttliche Werke.

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