Schublade auf auf der Eisbahn.
So eine Eisbahn ist ein wundervolles Panoptikum. Da tummeln sich Archetypen auf einer gemeinsamen Fläche, deren Glätte die gesellschaftliche und soziale Hierarchie mächtig durcheinanderwirbelt. Eine wunderbare Gelegenheit, die eigenen Vorurteile zu kalibrieren.
Da sind die Checker. Junge Männer, die schneller fahren als alle anderen, das auch besser können. Weil sie das können, bremsen sie knapp vor den anderen. Je weiblicher und für sie attraktiver, desto knapper. Checker zeichnen sich durch betont lässige Kleidung aus, häufig unterstützen sie ihren balzigen Fahrstil mit kurzen Ärmeln oder tiefem Ausschnitt.
Wenn Checker in die Jahre kommen, steigt der Körperfettanteil teilweise besorgniserregend an, ihre Fahrkünste dagegen konservieren sich. Allerdings halten sie jetzt ein bisschen mehr Abstand zu anderen, achten jedoch genau darauf, wer ihnen bewundernd nachsieht.
Bei Checkern jeden Alters ist es wie bei Kleinkindern, die laufen lernen: Ein Wunder, dass nicht mehr passiert.
Apropos Kleinkinder: Generationenübergreifend lassen sich zwei Lerntypen unterscheiden, wie bei den Lauflernern. Die einen fallen schnell und häufig hin, lassen sich davon jedoch nicht entmutigen und verbessern so ihre Fahrtechnik. Die anderen tasten sich langsam vor, fallen weniger, lernen mehr durch die Anschauung denn durch die eigene Erfahrung. Ans Ziel kommen sie beide.
Und dann gibt es noch die Eisprinzessinnen: Sehr junge, junge und zu meiner Überraschung auch ältere Frauen, die höchstsouverän Pirouetten drehen und sich auf dem Eis anmutiger bewegen als auf dem Land. Gerade bei den Erwachsenen ist manche Überraschung dabei. Da kreiselt eine Frau, die aussieht, als habe sie gerade den Tisch fürs Kaffeekränzchen gedeckt. Mit Jeans, Bluse und Wolljäckchen darüber ist sie komplett unsportlich gekleidet und setzt sich so deutlich von der Funktionskleidung des Rests der Eiswelt ab. Und doch zieht sie ihre Kreise mit bestechender Anmut.
Es gibt auch Eisprinzen, die sind zumeist älter und haben einen Körperfettanteil, von dem reife Checker und ich nur träumen können. Das sieht ziemlich storchig aus – aber ob ihrer Fahrkünste verdienen sie allen Respekt. Im Gegensatz zu den Checkern achten sie nicht auf ihre Außenwirkung, sie genügen sich augenscheinlich selbst und erfreuen sich der gleitenden Leichtigkeit ihres Daseins auf dem Eis.
Irgendwie scheinen sie woanders aufgewachsen zu sein, denn junge Eisprinzen suche ich lange vergeblich. Ob wohl manche Checker im Alter konvertieren, die Eishockey-Schuhe gegen jene mit Absatz tauschen? Da entdecke ich doch einen. Er mag 16 Jahre alt sein und übt mit einer etwa gleichaltrigen Eisprinzessin anmutige Figuren. Dabei wippen seine dichten dunklen Locken im Takt der Schritte.
Die anderen, die so aussehen wie er, scheinen zum ersten Mal in ihrem Leben Eis zu sehen, stolpern mit eingeknickten Fußgelenken übers Eis und verlassen die Bande nur, wenn es unbedingt sein muss. So kann man sich täuschen.
Ich finde Vorurteile herrlich. Da weiß ich mich an der Seite des wunderbaren Prof. Hardy Wagner, Gründer des Gabal-Verlages. Der sagte mir einmal in einem Persönlichkeitsseminar weise Worte: „Schubladendenken, Herr Augustin, ist eine gute Sache. Sie hilft uns, unser Leben zu strukturieren und zu organisieren. Tun sie mir nur einen Gefallen dabei: Lassen sie die Schublade offen!“
Ich bin Guido Augustin, Autor, dies ist Guidos Wochenpost.
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