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Alle mochten Mario: Hier einen Tintenfisch, da ein Glas Wein, da einen Café mit Grappa. Ich fand es merkwürdig, für ihn war das alles normal. Nachdem er mir seine Geschichte erzählt hatte, verstand ich.

Ich hatte Mario am Bahnhof von Palermo kennengelernt, ein kleiner Mann mittleren Alters, Sizilianer, sehr freundlich. Er sprach mich am Bahnsteig an, neugierig, woher ich komme, was ich in Palermo mache. Wir plauderten ein wenig und verabredeten uns ein paar Tage später, er habe ein kleines Motorboot, wir könnten ein wenig umherfahren.

Nun muss man wissen, dass alles, was man über Sizilien erzählt, offenbar wahr ist: Die unendliche Schönheit, die prägende Historie der größten Mittelmeerinsel, die ehrenwerte Gesellschaft. Der Taxifahrer schimpft, dass er zweimal Steuern zahlen müsse. Wenn Kinder einen wassergefüllten Ballon ihn ein Touristencabrio werfen, hat niemand etwas gesehen.

Mario war, so glaube ich bis heute, kein Mafioso. Doch da Vorurteile nichts anderes als in Form gegossene Erfahrungen von gestern sind, war Mario das personifizierte Vorurteil, wie das Miteinander auf dieser Insel funktioniert.

Tatsächlich wurde Mario überall, wo wir auf unserer Tour durch die Bucht Palermos hinkamen, überfreundlich empfangen. Kleine Geschenke, die allerbesten Wünsche und kleine Gebete – alle mochten Mario. Ja, er wisse schon, warum das so sei, antwortete er mir, als ich den Mut gefunden hatte, ihn danach zu fragen.

Mario war in der Stadtverwaltung zuständig für die Vergabe der Fischereilizenzen.

Doch er schämte sich keineswegs, dass ihn alle „mochten“ und mit kleinen Gaben verwöhnten. Tatsächlich entrüstete er sich, wie sich nur Süditaliener entrüsten können, über die unmoralischen Zeitgenossen, die zu ihm in die Stadtverwaltung kämen und ihm Geld geben wollten, um an eine der begehrten Lizenzen zu kommen. Als wenn er bestechlich sei! Er war ehrlich beleidigt und sehr berührt von seiner eigenen Geschichte. Nein, er habe nie Geld angenommen, das wäre nicht Recht, erzählte er mir jovial. Alles, was er wolle, sei Freundschaft!

Und so kam es, dass der nassauische Sizilianer überall durchgefüttert, mit kleinen Geschenken bedacht und halbgottgleich verehrt wurde. Vermutlich genau so lange, wie er sein Amt innehatte.

Was er Freundschaft nannte, erinnert an unsere Provisionssysteme und – etwas weitergedacht – Reklame, wie sie die großen Markenartikler dieser Welt für Multimillionen schalten. Weil und solange ich etwas dafür bekomme, bin ich Dein Freund und damit Du lange mein Freund bleibst, gebe ich Dir immer wieder etwas dafür.

Das hat selbstredend wenig mit dem Kern des Freundschaftsbegriffs zu tun, wie ich ihn kenne und schätze. Mario mag während seiner Beamtenlaufbahn sehr gut gelebt haben, ohne dabei wirklich mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Doch sei ihm zu wünschen, dass er mit dem Tag seiner Pensionierung auf niemanden mehr angewiesen war. Denn dann gab es sicher keinen Tintenfisch mehr, kein Glas Wein, keinen Caffè mit Grappa.

Wahre Freundschaft, oder, etwas übertragen, eine wahre emotionale Bindung zwischen Menschen oder einer Marke und Menschen funktioniert anders. Sie ist unabhängig von der Macht der einen Seite, sie braucht keinen konstanten Druck und besteht ohne einseitige Zuwendungen. Sie baut darauf, dass Menschen oder Organisationen an einer Stelle oder eine Zeitlang synchron schwimmen und sich dafür mögen. So funktionieren wechselseitige Beziehungen, sei es privat als Paar, Freundeskreise oder Familie, sei es geschäftlich als Mitarbeiter, Kunden oder Geschäftspartner. Wo Macht der Kitt der Beziehung ist, geht diese mit dem Schwinden der Macht in die Brüche – die Freundschaft dagegen überdauert die Zeitläufte.

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