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Das Etikett #wirsindmehr hat schnell große Popularität erreicht. Über 300.000 Menschen haben eine Online-Petition unterzeichnet, in Chemnitz gab es ein gigantisches Konzert mit 70.000 Besuchern, vieler Facebook-Profilbilder tragen dieses Bekenntnis gegen rechte Gewalt: #wirsindmehr. Und schon treten Gegengegenmotzer auf den Plan und werfen den neuen Bekennern gegen rechts vor, ihr politisches Engagement auf ein oder zwei Mausklicks zu beschränken. Wisst ihr was? Das ist mir so egal! Selbst, wenn es so wäre: ich freue mich über jeden Einzelnen, der in seiner kleinen Welt Position bezieht. Das Letzte, was wir in diesen unruhigen Zeiten gebrauchen können, ist ein Wettbewerb um den richtigen, echten und womöglich einzig wahren Antifaschismus.

Man müsse differenzieren, sagt der sächsische Ministerpräsident Kretschmer, der zuletzt nicht gerade mit klaren Bekenntnissen für die Grundfeste unserer Demokratie, vor allem Pressefreiheit und Unversehrtheit der eigenen Person, aufgefallen ist. Nicht alle, die da in Chemnitz aufmarschiert seien, um gegen den Mord an einem Deutschen zu protestieren, seien Nazis, man dürfe es sich nicht so einfach machen.

Doch, lieber Herr Ministerpräsident, das muss man sogar. Man muss es sich so einfach machen, ich bestehe darauf!

Nennen wir die Kinder beim Namen: Wer die Menschenwürde nicht achtet (Artikel 1 Grundgesetz), Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung erniedrigt und angreift (Artikel 3 und 4), wer Deutschland den Deutschen vorbehalten sieht, wer die freie und unabhängige Presse permanent der Lüge bezichtigt, angreift und am liebsten ihre Häuser stürmen möchte (Artikel 5), ist kein besorgter Bürger, kein benachteiligter Zonenbewohner, kein unpolitischer Unwissender.

Wer so denkt, sich so äußert, sich so verhält, ist ein Nazi.

So einfach ist es, so einfach muss es benannt sein. Sonst wächst unter der Dunstglocke des Definitionskampfes ein Monster heran, dem wir alle nicht mehr Herr werden. Wir sehen das an der Aufarbeitung von Chemnitz: Da wird um die Verwendung des Wortes „Hetzjagd“ gerungen, da werden waidmännische Kriterien herangezogen und die Unglaublichkeit, dass Menschen andere Menschen am hellichten Tag auf offener Straße (bis jetzt) ungestraft angreifen, weil sie ausländisch aussehen oder Journalisten sind, verblasst zur Randnotiz. Das dürfen wir nicht zulassen.

Und jeder, der neben einem Nazi steht und sich nicht von dessen Gedankengut, Parolen, Symbolen, Sprüchen und Handlungen distanziert, ist auch ein Nazi. So einfach ist das, so einfach muss das benannt werden. Da gibt es auch nichts zu differenzieren, da gibt es nichts zu definieren, da gibt es nichts zu beschönigen.

Es gibt kein bisschen Nazi.

Allerdings funktioniert der Umkehrschluss nicht. Es ist keineswegs so, dass jeder, der NICHT sichtbar mit den Nazis marschiert, deswegen kein Nazi ist. Denn es gibt diese schweigende, graue Masse, von der man es so genau nicht weiß, die sich vielleicht gar nicht entscheiden mag und kann. Es gab in diesem Land schon einmal eine graue Masse, Menschen, die nie aktiv waren, nie zu den Rädelsführern gehört haben, nur Befehle ausgeführt haben. Doch sie hätten jederzeit wissen können, wenn sie denn hätten wissen wollen. Menschen, die nichts gesagt haben, nichts getan haben und damit erst das Undenkbare denkbar und das Unmögliche machbar machten.

Damit auch das klar benannt ist: Die Nazis haben Fabriken gebaut, um Menschen industriell zu töten.

Deswegen freue ich ich über jeden, der sich #wirsindmehr bedient. Selbst über Helene Fischer – dass ich das mal schreiben würde hätte ich nie gedacht … Und wenn es nur das Profilbild auf Facebook ist, dann ist es eben nur das Profilbild auf Facebook. Es sind echt viele dort – und das ist großartig! Das ist mehr als #wegsehen und macht mir Hoffnung.

Spätestens seit dem Sieg eines Verwirrten in den USA sollte allen klar sein, dass bei Wahlen und in der Politik nicht auf Basis von Sachfragen und anspruchsvollem rhetorischem Austausch entschieden wird. Es ist eine Frage der Psychologie. Wenn die Medien über Steinewerfer auf Autobahnbrücken berichten, steigt die Zahl der Steinewerfer auf Autobahnbrücken. Wenn in meiner Nähe Menschen ihre Arbeitsstelle verlieren, steigt meine Zukunftsangst. Die Vogelgrippe war so lange ein abstraktes Thema der Fernsehnachrichten, bis wenige Straßen von uns entfernt ein kleines Kind daran starb. Menschen schätzen die Anzahl der Todesfälle durch Unfälle und Straftaten viel zu hoch ein, weil darüber mehr berichtet wird als über Schlaganfälle und Herzstillstand. Affektheuristik, Priming, Framing usw. heißen diese Effekte in der Psychologie, sie verschieben unsere Wahrnehmung und trüben unser Urteilsvermögen.

Wenn wir also jetzt aufgrund der (meiner Meinung nach) unabhängigen und ausgewogenen Berichterstattung der Medien immer mehr Nazis sehen, bekommen wir das Gefühl, das sei eben so bei uns, ob uns das gefällt oder nicht. Wir bekommen das Gefühl, dass sie immer mehr werden. Und sie selbst und ihre Sympathisanten sehen sich bestärkt, werden mutiger, kommen aus miefigen Hinterzimmern der Geschichte ins helle Licht des Tages. Womöglich beschleicht uns sogar das Gefühl, dass sie Recht haben könnten mit dem ein oder anderen Punkt. „Wird man doch wohl noch sagen dürfen“ ist so eine Floskel, die folgende Ungeheuerlichkeiten versüßen, verwässern soll, „ich bin ja kein Nazi, aber …“ eine andere. Doch Gift bleibt Gift, Menschenhass bleibt Menschenhass, Nazi bleibt Nazi. Und die dürfen nicht das Gefühl bekommen, sich immer mehr erlauben zu dürfen, gesellschaftlich bestärkt vom einfachen Mann auf der Straße bis zu verantwortungslosen Brandstiftern an der Spitze von Verfassungsschutz und Innenministerium. Wen wundert bei diesem debilen Duo noch, dass die Rechten, die reihenweise Gesetze brechen, von der Staatsmacht nicht richtig in die Schranken gewiesen werden …

Wenn dagegen 70.000 Menschen nach Chemnitz fahren, um unter dem Etikett #wirsindmehr ein Konzert zu erleben, ist es mir egal, wie stark sie dabei politisch motiviert sind – sie senden ein Signal in die Gesellschaft. Wenn gefühlt Hunderttausende auf Facebook ihrem Profilbild #wirsindmehr hinzufügen, ist es mir egal, ob morgen stattdessen wieder gequirlte Einhornkacke prangt – sie senden ein Signal in die Gesellschaft. Wenn in Mainz der Eulchen-Biergarten am Tag der AfD-Veranstaltung mit dem Ober-Gauleiter schließt und eine Tafel mit „kein Bier für Nazis“ aufstellt, ist mir egal, ob an anderen Tagen auch Nazi-Wähler dort trinken – die Betreiber senden ein Signal in die Gesellschaft. Wenn mein Weinsponsor Traubenglück für sich Werte formuliert und sich darin zu Menschenwürde, Akzeptanz und Demokratie bekennt und sich folgerichtig weigert, Nazis Wein zu verkaufen, sendet er ein Signal in die Gesellschaft.

Und bei jedem – noch so kleinen – dieser Signale bin ich stolz, Deutscher zu sein, denn #wirsindmehr!

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