Mein Wunderglaube.
Gerade bin ich von einem Menschen, der für sein Wissen die Wissenschaft verantwortlich macht, beschimpft worden. Mein Verhalten sei unmöglich. Da ich nicht wusste, welches Verhalten er genau meinte, fragte ich verdutzt, aber höflich nach. Immerhin hatte ich seinem Gesichtsausdruck schon ablesen können, dass er total sauer war und mich innerlich auf eine harsche Ansprache vorbereitet. Außerdem hatte er ungewöhnlich lange eingeatmet, bevor er mich ansprach.
„Dein Wunderglaube“, schnaubte er und führte dann sichtlich erregt etwas von Wasser und Eis aus. Da habe ich aber schon nicht mehr zugehört und den Dialog inmitten seines Satzes beendet. Denn hinter ihm stand sein kleines Kind und ich hatte mit ihm unlängst eine Sträußchen gehabt, weil ich den Standpunkt vertreten hatte, dass man Grundschülern vor der These verschonen sollte, dass die CO2-Vermehrung nicht mehr lange umkehrbar, mithin unsere Welt praktisch dem Untergang geweiht sei, so dass die Kinder glauben müssen, dass wir alle bald sterben müssen. Völlig unabhängig von der Frage, ob das so ist, so sein könnte oder nicht.
Ich weiß nicht, ob er Recht hat. Es kann sein, dass er Recht hat. ich ziehe das in Betracht – was uns unterscheidet. Ich bin nämlich nicht diese Meinung – doch er zieht gar nicht erst in Betracht, dass ich Recht haben könnte.
Ganz leise fragte ich mich, als er noch in meine Richtung fauchte, ob sich mal bitte jemand die Mühe machen könne, wissenschaftlich wohlbegründete Fehleinschätzungen der Weltgeschichte zu zählen. Ich würde dann nicht eingetroffene Wunder zählen. Das ließe sich sicher ganz gut vergleichen.
Ich bin 1967 geboren. Seit ich einigermaßen klar denken kann, geht die Welt unter: Nato-Doppelbeschluss, Franz Josef Strauß, Gorleben, Startbahn West, Waldsterben, kalter Krieg, Aids, Biafra, Iran-Krieg, Frauenbewegung, Irak-Krieg, Afghanistan-Krieg, nochmal Irak-Krieg, Erderwärmung, Michael Jackson, Dieselskandal, die Republikaner, Donald Trump und zuletzt der Brexit, Antibiotika-Resistenzen, Bienensterben und Erderwärmung.
Keine Ahnung, wann die Welt untergeht, keine Ahnung, welche Seuche schlimmer wird als wir Menschen, keine Ahnung, wie wir es bis hierher geschafft haben, zu überleben. Aber dass es eine Todsünde ist, Kinderseelen mit Todesangst zu vergiften, dessen bin ich mir sicher. Sehr sicher sogar.
Übrigens habe auch ich eine wissenschaftliche Ausbildung, eine geistes- und sozialwissenschaftliche nämlich. Die Frage, ob es fürs Leben und Überleben besser ist, Physik, Informatik und Chemie studiert zu haben oder Archäologie, Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft (so wie ich alles drei), wäre äußerst spannend. Ich erläutere sie gerne mit allen, die Rotwein mögen und bereit sind, den Sitzplatz im Laufe des Abends zu wechseln – und sei es nur, um eine andere Sichtachse auf das Thema einzunehmen.
Auf Basis all dessen, was ich weiß, gesehen, erlebt, lesen und gehört habe, wundere mich immer wieder, wenn unsere Zukunft mit der Gegenwart erklärt wird. Das hat noch nie funktioniert. Kein Wunder, dass das manchem wie ein Wunder vorkommt.
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